
Zwischen Trauma-Fokus und Bildungsauftrag: Was die Zukunft der Rettungsdienstausbildung lehrt
Die Anforderungen an Rettungsfachpersonal verändern sich: Weg von der reinen Notfallmedizin, hin zu komplexeren Einsätzen mit psychosozialen, strukturellen und kommunikativen Herausforderungen. Wie aber bereitet die Ausbildung darauf vor? Der Artikel „The future of paramedic education: Problematizing the translucent curriculum in paramedicine“ von Corman, Phillips und McCann [2] wirft genau diese Frage auf – und kommt zu einem kritischen Fazit: Die Ausbildung ist vielerorts noch zu einseitig, zu technikzentriert und zu wenig reflektiert. Für die deutschen Rettungswissenschaften enthält der Beitrag wichtige Denkanstöße.
Corman et al. beobachten die Ausbildung von Paramedics in Kanada und Großbritannien – Ländern mit akademisierten Ausbildungswegen, aber ähnlichen berufskulturellen Wurzeln wie im deutschen Rettungsdienst. Ausgangspunkt ihrer Analyse ist die Frage: Welche Werte, Vorstellungen und Schwerpunkte werden in der Ausbildung tatsächlich vermittelt – jenseits der offiziellen Lehrpläne?
Hierbei greifen die Autoren zwei zentrale soziologische Konzepte auf. Zum einen ist da, das „Hidden Curriculum“ (verdeckter Lehrplan). Dies bezieht sich auf die unbewussten oder impliziten Botschaften, die Lernende durch Sprache, Beispiele, Prioritäten und Bewertungen im Unterricht aufnehmen – etwa, was als „wichtiger“ oder „echter“ Notfall gilt. Und zum anderen das „Translucent Curriculum“ (transluzenter Lehrplan): Ein von den Autoren eingeführter Begriff, der andeutet, dass diese versteckten Elemente nicht völlig unsichtbar sind – sie sind „durchscheinend“, kulturell verankert, teils explizit, aber selten hinterfragt.
Diese unsichtbaren Strukturen, so die These, reproduzieren eine sehr enge Vorstellung davon, was „gute Notfallsanitäter:innenarbeit“ sei – und diese Vorstellung ist stark von Trauma, Technik und Schnelligkeit geprägt.
Ein zentrales Kritikfeld ist, was die Autoren als „Tyranny of the bio-psycho-medico“ bezeichnen – eine Dominanz der biomedizinischen Perspektive:
- Im Zentrum stehen körperliche Zustände, pathophysiologische Abläufe und medizinische Interventionen.
- Psychologische Aspekte werden individualisiert verstanden – strukturelle Ursachen psychischer Belastung bleiben außen vor.
- Soziale und gesellschaftliche Kontexte von Gesundheit und Krankheit spielen kaum eine Rolle.
Diese Fixierung führt laut Corman et al. zu einer einseitigen Ausbildung, in der komplexe soziale Lagen, chronische Erkrankungen, mentale Gesundheit oder strukturelle Determinanten von Gesundheit kaum Platz finden – obwohl sie in der Realität der Notfallversorgung immer präsenter werden.
In vielen Lehrkontexten werde eine Art „Operator Culture“ kultiviert – eine Kultur, in der das technisch-komplexe Notfallgeschehen als eigentliche Berufung gesehen wird. Dies zeige sich etwa in der Art, wie Einsätze bewertet werden („richtige Notfälle“ vs. „Bagatelleinsätze“) oder in den Prüfungsformaten (Schwerpunkt auf Lebensrettung und invasiven Maßnahmen, kaum auf Gesprächsführung oder psychosoziale Intervention).
Die Folge ist, dass Einsätze mit niedrigem Dringlichkeitsgrad, soziale Problemlagen oder chronische Beschwerden von vielen Notfallsanitäter:innen als „nicht mein Job“ wahrgenommen werden. Gleichzeitig fühlen sich viele Neueinsteiger:innen schlecht vorbereitet auf diese Realität – was zu Frustration und Burnout beitragen kann.
Corman et al. betonen, dass die Akademisierung der Paramedic-Ausbildung – etwa in Form von Bachelorprogrammen – zwar neue Chancen bietet, aber nicht automatisch zu einem kritisch-reflektierten Bildungsverständnis führt. Viele Curricula, so der Vorwurf, reproduzieren den traditionellen Notfallmedizin-Fokus und bleiben einer „Logik der schnellen Reaktionen“ verhaftet.
Auch Inhalte wie die Sozialen Determinanten von Gesundheit, Konzepte der strukturellen Kompetenz oder kritische soziologische Perspektiven seien, wenn überhaupt, nur punktuell integriert – oft eher „tokenistisch“, um formale Anforderungen zu erfüllen, nicht als tragende Grundidee der Ausbildung.
Der Artikel plädiert daher eindrücklich für eine stärkere Integration der Soziologie in die Ausbildung. Soziologische Perspektiven ermöglichen es, gesellschaftliche Machtverhältnisse, soziale Ungleichheit und institutionelle Strukturen in die Deutung von Gesundheit und Krankheit einzubeziehen. Eine soziologische Perspektive fördert die Entwicklung einer „sociological imagination“ – also die Fähigkeit, individuelle Probleme in ihrem gesellschaftlichen Kontext zu erkennen und sie hilft, die eigene Berufsrolle kritisch zu reflektieren: Wer wird wie versorgt – und warum?
Der Artikel von Corman et al. trifft einen Nerv – auch für Deutschland. Zwar unterscheidet sich die Ausbildung von Notfallsanitäter:innen (noch) formal von internationalen Studienmodellen. Aber: Viele der beschriebenen Dynamiken sind auch hier zu beobachten:
- Die Notfallorientierung dominiert den Berufsalltag – während eine Versorgungsrealität mit „nicht-akuten“ oder komplexen psychosozialen Fällen eher als Belastung erlebt wird.
- Der Ausbildungsschwerpunkt liegt stark auf medizinischen, technischen und praktischen Fertigkeiten – psychosoziale, ethische, professionelle oder gesellschaftliche Dimensionen werden oft marginal behandelt.
- Die Professionalisierungsdebatte bleibt häufig auf rechtlich-institutionelle Aspekte begrenzt (z. B. Notkompetenz, akademische Ausbildung) – weniger auf eine reflexive, bildungstheoretische Perspektive.
Dabei könnte genau hier eine Chance liegen: Rettungswissenschaften als disziplinärer Ort, um ein neues Selbstverständnis des Berufs zu entwickeln – jenseits des „Retters im Blaulicht“, hin zu einem reflektierten, kontextsensiblen und gesellschaftlich wirksamen Gesundheitsberuf.
Corman et al. [2] liefern eine differenzierte und zugleich deutliche Kritik an der Ausbildungspraxis im internationalen Paramedic-Bereich – mit hoher Relevanz für den deutschen Diskurs. Wer Rettungsfachpersonal für die Zukunft ausbilden will, muss mehr tun als technische Kompetenzen vermitteln. Es braucht:
- Curricula, die soziale Kontexte systematisch integrieren,
- eine kritische Auseinandersetzung mit beruflichen Selbstverständnis und Einsatzrealität,
- und eine Bildungskultur, die zur Reflexion anregt, nicht nur zur Reaktion.
Diese Forderungen lassen sich nicht nur professionspolitisch bzw. -theoretisch begründen – sie lassen sich auch bildungstheoretisch untermauern. Der Philosoph Peter Bieri [1] hat in seiner Festrede „Wie wäre es, gebildet zu sein?“ deutlich gemacht, dass Bildung mehr ist als Ausbildung: Sie zielt nicht allein auf Können, sondern auf eine bestimmte Art, in der Welt zu sein. Bildung im vollen Sinne meint:
„… sich in seinem Denken, Fühlen und Wollen zu verstehen […], das Schaffen und Fortschreiben von Selbstbildern.“ [1]
Eine Rettungsdienstausbildung, die sich am Ideal einer solchen Bildung orientiert, würde nicht nur Wissen vermitteln, sondern die Fähigkeit fördern, mit Komplexität umzugehen, Verantwortung zu übernehmen – und sich selbst im Beruf immer wieder neu zu verorten. Genau das fehlt derzeit häufig in einem System, das Handlungssicherheit im Notfall hochhält, aber (Selbst-)Reflexion, Ambiguitätstoleranz und Weltorientierung zu wenig kultiviert.
Für die Professionalisierung des Rettungsdienstes bedeutet das: Es braucht allenfalls eine ausgewählte weitere Perfektionierung des medizinischen Handlungskönnens – viel wichtiger ist eine Erweiterung des beruflichen Selbstverständnisses. Nur wer in der Lage ist, auch über die eigenen Routinen hinauszudenken, kann den Herausforderungen einer sich wandelnden Versorgungs- und Berufsrealität gerecht werden. Und nur wer gebildet ist im Sinne Bieris, wird nicht zum Spielball von Algorithmen, Leitlinien oder Einsatzstatistiken – sondern bleibt ein:e selbstbestimmte:r Notfallsanitäter:in in einer komplexen Welt.
Quellen:
[1] Bieri, P. (2005). Wie wäre es, gebildet zu sein? (Festrede). https://www.hoffbauer-stiftung.de/fileadmin/user_upload/hoffbauer/content/bildung/fort_und_weiterbildung/echris/schulwesen-allgemein/Peter-Bieri-wie-wa__re-es-gebildet-zu-sein.pdf
[2] Corman, M. K., Phillips, P., & McCann, L. (2025). The future of paramedic education: Problematizing the translucentcurriculum in paramedicine. Paramedicine. https://doi.org/10.1177/27536386251338525
Autor: Thomas Hofman, 02.07.2025