Frequent User im Rettungsdienst: Zwischen Frustration und Verantwortung

Frequent User im Rettungsdienst: Zwischen Frustration und Verantwortung

Jede:r im Rettungsdienst kennt es: Man schaut auf den Einsatzauftrag, erkennt die Adresse oder den Namen und denkt sofort „Schon wieder der:die!“. Immer wieder werden Rettungsteams zu denselben Patient:innen geschickt, oft mit scheinbar geringfügigen Beschwerden. Das Gefühl von Déjà-vu stellt sich ein und mit ihm Frust und Ungeduld. Insgeheim mag man die Augen rollen – schon wieder ein Anruf ohne echte medizinische Relevanz, während woanders vielleicht ein echter Notfall wartet. Solche wiederholten Einsätze zu denselben Personen sind kein Einzelfall, sondern ein verbreitetes Phänomen im Rettungsdienst. In der Fachsprache werden diese Patient:innen häufig als „Frequent User“ bezeichnet – also Personen, die den Rettungsdienst in kurzer Zeit ungewöhnlich oft in Anspruch nehmen.

Dieser Einstieg mag unangenehme Emotionen wecken, doch er ist vielen von uns vertraut. Wichtig ist: Hinter diesem Frust verbergen sich menschliche Schicksale und systemische Probleme. Bevor wir vorschnell urteilen, lohnt es sich, genauer hinzuschauen, wer diese Frequent User sind, warum sie immer wieder den Notruf wählen – und welchen Anteil wir im Rettungsdienst an diesem Problem haben.

Wer sind Frequent User? Begriff und Vorkommen

Frequent User sind Personen, die wiederholt innerhalb kurzer Zeit den Rettungsdienst rufen. Dabei existieren unterschiedliche Kriterien, ab wann jemand als „frequent“ gilt. In Deutschland wird z.B. vorgeschlagen, als Frequent Caller jene Personen zu definieren, die mindestens 5-mal pro Monat oder 12-mal in 3 Monaten den Notruf wählen. Andere Studien unterscheiden Kategorien: etwa Low Frequent User (4 Einsätze/Jahr), Medium (5–6/Jahr) und High Frequent User (7–10/Jahr) – besonders extreme Fälle mit über 10 Einsätzen pro Jahr werden teils als „Super Frequent User“ bezeichnet (Breuer et al., 2020). Diese Kategorien zeigen bereits, dass es nicht „die eine“ Schwelle gibt; vielmehr beschreibt der Begriff eine Grauzone zunehmender Inanspruchnahme.

Zum Glück machen sie nur einen kleinen Teil der Patient:innen aus – aber sie verursachen einen überproportionalen Anteil an Einsätzen. Eine Berliner Analyse ergab, dass etwa 2,1 % der Rettungsdiensteinsätze auf High- und Super-Frequent User zurückgingen, was in einem Jahr 598 Personen entsprach. Diese kleine Gruppe löste also über 3000 Einsätze aus. Im Durchschnitt kam ein High Frequent User auf 8 Einsätze pro Jahr, ein Super Frequent User sogar auf 18. Einzelne Extrembeispiele gehen noch darüber hinaus: Ein einziger Patient brachte es auf 194 Einsätze in einem Jahr, bevor durch gezieltes Fallmanagement die Zahl reduziert werden konnte (Breuer et al., 2020). International belegen Studien die hohe Inanspruchnahme und Kostenbelastung durch Frequent User. In den USA machten sogenannte „EMS-Superuser“ zwar nur 0,3 % der erwachsenen Nutzer:innen aus, verursachten jedoch über 6 % der jährlichen Rettungsdienstkosten (Hall et al., 2015) Eine weitere US-Analyse zeigte, dass 3,25 % der Patient:innen für 17 % aller Notaufnahmen verantwortlich waren und rund ein Drittel aller EMS-Transporte auslösten, was jährliche Mehrkosten in Millionenhöhe verursachte (Solberg et al., 2016). Ein relativ kleiner Kreis von Menschen bindet einen erheblichen Teil der Ressourcen im Notfallwesen.

Ursachenforschung: Warum rufen Menschen so oft den Rettungsdienst?

Der erste Impuls vieler Retter:innen ist anzunehmen, Frequent User würden den Rettungsdienst „missbrauchen“ – etwa aus Bequemlichkeit oder Unvernunft. Die Realität ist aber komplexer. Die Hintergründe für häufige Notrufe sind sehr vielfältig. Häufig liegt eine Kombination aus psychosozialen und somatischen Problemen vor. Ein Blick in aktuelle Studien – insbesondere auch aus dem deutschsprachigen Raum – zeichnet folgendes Bild:

  • Medizinische Versorgungslücken: In einer deutschlandweiten Befragung nannten Rettungskräfte als häufigste Gründe für Frequent-User-Einsätze Versorgungsprobleme (44,7 %) – damit sind z.B. fehlende oder schwer zugängliche hausärztliche Versorgung, Pflegemängel oder nicht wahrgenommene ambulante Angebote gemeint. Gerade außerhalb der üblichen Öffnungszeiten wissen manche Menschen offenbar nicht, wohin sie sich sonst wenden können. Der Rettungsdienst wird wegen seiner Rund-um-die-Uhr-Verfügbarkeit und schnellen Reaktion als Anlaufstelle gesehen, auch wenn das Problem eigentlich kein klassischer Notfall ist. Mit anderen Worten: Oft ruft nicht Böswilligkeit, sondern Hilflosigkeit den Rettungsdienst – mangels Alternativen im System (Schodlok et al., 2023).
  • Psychosoziale Faktoren: Ebenfalls sehr häufig – laut derselben Befragung an zweiter Stelle – wurden Intoxikationen (24,3 %) als Anlass für Frequent-User-Einsätze genannt. Dahinter verbergen sich oft Substanzmissbrauch (z.B. Alkohol, Drogen) und die damit verbundenen sozialen Probleme. Menschen mit Suchtproblemen, psychischen Erkrankungen oder ohne festes Zuhause gehören überproportional zur Gruppe der Frequent User. Studien aus dem Ausland bestätigen, dass Obdachlosigkeit, Einsamkeit und psychische Krankheiten wichtige Prädiktoren für häufige Notrufnutzung sind (Bieler et al., 2012; Moulin et al., 2018; Schodlok et al., 2023) Viele Frequent User suchen weniger wegen akuter medizinischer Not Hilfe, sondern wegen chronischer Lebenskrisen – sie fühlen sich allein, überfordert oder sehen in ihrer Not keine andere Anlaufstelle als 112. Ein kanadisches Forschungsteam brachte es auf den Punkt: Frequent User rufen den Rettungsdienst an, um Bedürfnisse zu erfüllen, die über die akute Medizin hinausgehen – etwa soziale Unterstützung (Mahmuda et al., 2020)
  • Somatische Erkrankungen: Natürlich dürfen wir nicht übersehen, dass einige Frequent User tatsächlich chronisch krank sind und deshalb wiederholt Hilfe benötigen. Gerade ältere Menschen mit mehrfachen Vorerkrankungen können vermehrt auf den Rettungsdienst angewiesen sein, weil sich ihr Zustand häufig verschlechtert. Eine dänische Studie fand z.B., dass wiederholte Rettungsdiensteinätze oft mit dem Vorliegen chronischer Krankheiten einhergehen. In solchen Fällen kann die Häufung der Notrufe auch ein Indikator dafür sein, dass die reguläre Gesundheitsversorgung unzureichend ist – sei es durch fehlende Pflege, unzureichendes Schmerzmanagement oder mangelnde Betreuung zu Hause.

Auch fehlende Gesundheitskompetenz mag einen Einfluss auf die Häufigkeit von Rettungsdienstkonsultationen haben. Hier sollten Retter:innen aber vorsichtig sein von sich auf andere zu schließen. Um mal einen Vergleich zu bemühen: Man selbst fährt auch wegen Problemen mit seinem Auto in die Werkstatt, die die KFZ-Mechatronier:in problemlos zuhause gelöst bekommt. Folgend sehen fachfremde Personen eher einen rettungsdienstlichen Konsultationsbedarf als welche mit entsprechendem Fachhintergrund. 

Zusammenfassend sind Frequent User meist keine „Spaßanrufer“, sondern Menschen mit realen (wenn auch nicht immer akut lebensbedrohlichen) Problemen. Sie fallen durchs Raster unseres Gesundheits- und Sozialsystems. Die Notfallrettung wird zum Auffangnetz für Probleme, die woanders nicht aufgefangen werden. Diese Erkenntnis sollte uns nachdenklich stimmen – denn eigentlich ist der Rettungsdienst dafür nicht konzipiert.

Auswirkungen auf Rettungsfachpersonal: Vorurteile, Geduld und Sorgfalt

So verständlich der Unmut über ständig wiederkehrende Einsätze ist, so gefährlich kann er werden. Eine aktuelle Studie von Schodlok et al. (2023), die über 1100 Rettungskräfte in Deutschland befragte, hat eindrücklich gezeigt, wie Frequent User das Verhalten und Empfinden der Retter:innen beeinflussen. Über 70 % der Befragten gaben an, dass Einsätze mit Frequent Usern ihre Geduld und Stimmung negativ beeinflussen. Viele räumten ein, voreingenommen zu sein, sobald sie zu bestimmten „Hotspots“ oder bekannten Namen gerufen werden – „das wird wohl wieder ein Frequent User sein“. Solche Vorurteile sind verbreitet und menschlich, aber sie bergen Risiken.

Die Studie offenbarte nämlich auch ein besorgniserregendes Muster: Ein signifikanter Anteil der Rettungskräfte untersucht und dokumentiert bei Frequent Usern weniger gründlich. Konkret stimmten nur ca. 13–22 % der Befragten voll zu, dass sie bei Frequent Usern genauso sorgfältig dokumentieren wie bei anderen Patienten. Ebenso gab fast ein Drittel (29 % Landlicher Rettungsdienst; 40 % Städtischer Rettungsdienst) an, Frequent User weniger sorgfältig zu untersuchen oder zu behandeln. Anders formuliert: Ein großer Teil der Retter:innen gesteht ein, bei diesen Einsätzen etwas nachlässiger zu sein. Dieser Befund wird untermauert durch die statistische Auswertung: In städtischen Gebieten ist die Wahrscheinlichkeit für eine weniger sorgfältige Untersuchung und niedrigere Dokumentationsqualität bei Frequent User-Einsätzen deutlich erhöht. Im ländlichen Bereich waren diese Tendenzen signifikant geringer (OR für nachlässige Untersuchung 0,61; OR für unvollständige Dokumentation 0,51 im Vergleich zur Stadt) – möglicherweise, weil man sich dort noch eher die Zeit nimmt oder die Patient:innen persönlich kennt. Trotzdem existiert das Phänomen überall.

Die Konsequenzen können gravierend sein. Jede:r Zwanzigste in der Umfrage gab zu, aufgrund von Vorurteilen gegenüber Frequent Usern schon einmal beinahe eine bedrohliche Erkrankung übersehen zu haben. Zwar mag diese Quote niedrig erscheinen, doch sie entspricht realen Fällen von Beinahe-Fehldiagnosen. Vorurteile und nachlassende Sorgfalt gefährden somit die Patientensicherheit. Gerade Frequent User mit ihren oft unspezifischen Symptomen können leicht unterschätzt werden. Wenn wir im Einsatz innerlich abwinken, steigt das Risiko, doch einmal die Nadel im Heuhaufen – den echten Notfall – zu übersehen. Tragischerweise trifft es dann einen Menschen, dem man vielleicht schon vorher mit Skepsis begegnet ist.

Darüber hinaus hat die unterschiedliche Behandlung von Frequent Usern einen systemischen Aspekt: Wird jemand routinemäßig nicht gründlich untersucht oder die Doku lückenhaft geführt, geht eventuell wertvolle Information verloren, die für eine langfristige Lösung nötig wäre. Die erwähnte Studie diskutiert, dass unzureichende Untersuchung, Behandlung oder Dokumentation durch das Rettungsfachpersonal die Problematik der Frequent User sogar verstärken kann. Wenn Patient:innen immer wieder nur oberflächlich versorgt und rasch in die Notaufnahme befördert werden, ohne dass ihr eigentliches Problem adressiert wird, bleiben sie im Kreislauf – und rufen bald erneut an. Hier wird deutlich: Der Rettungsdienst ist nicht nur Beobachter, sondern auch Akteur in diesem Geschehen. Unsere Haltung und Arbeitsweise beeinflussen mit, ob Frequent User adäquat versorgt werden oder in einer Endlosschleife festhängen.

Systemische Lücken: Frequent User als Symptom eines größeren Problems

Beim näheren Hinsehen entpuppen sich Frequent User als Spiegel unseres Gesundheits- und Sozialsystems. Eine Forschungsarbeit fragte provokativ, ob Frequent User und Caller Indikatoren eines unzureichenden Gesundheits- und Sozialsystems seien (Breuer et al., 2020) Vieles spricht dafür. Denn warum ruft jemand den Rettungsdienst wegen Einsamkeit, kleiner Beschwerden oder chronischer Probleme? Weil andere Stellen versagen oder fehlen.

Ein Beispiel: Ältere, alleinstehende Menschen mit multiplen Erkrankungen fühlen sich abends plötzlich unsicher – der Hausarzt hat zu, die Angehörigen wohnen weit weg. Wer bleibt als Helfer? Der Rettungsdienst. Oder jemand mit einer Suchterkrankung und sozialen Schwierigkeiten wird immer wieder von Passanten in hilflosem Zustand aufgegriffen; mangels anderer Hilfsangebote landen diese „Frequent Caller“ regelmäßig als Notfall in der Leitstelle. In Ballungsgebieten spielt oft die Anonymität und Dichte sozialer Probleme eine Rolle – hier zeigen Statistiken einen Zusammenhang zwischen sozialer Benachteiligung und hoher Notruf-Nutzung(Breuer et al., 2020). In ländlichen Gebieten hingegen sind Frequent-User-Einsätze tendenziell häufiger auf tatsächliche Versorgungsengpässe (etwa keine Ärzt:innen verfügbar, weite Wege) zurückzuführen. Beide Szenarien haben gemein, dass nicht „zu viel Bedarf“ das Kernproblem ist, sondern unpassende oder fehlende Versorgungsstrukturen.

Die Konsequenz: Der Rettungsdienst wird als sozialer Dienstleister wahrgenommen, der Aufgaben übernimmt, die eigentlich nicht in sein originäres Tätigkeitsfeld gehören. Einige Frequent User sehen in 112 offenbar eine niedrigschwellige Allzweck-Hilfe – eine Art verlängerte Sozialstation. Das ist keine Schuldzuweisung an die Betroffenen, sondern Hinweis auf Lücken: Sei es die Psychiatrie, die ambulante Pflege, die Hausarztversorgung oder sonstiger Sorgearrangements – irgendwo bekommen diese Menschen nicht die Hilfe, die sie bräuchten.

Frequent User „nerven“ also nicht einfach aus Boshaftigkeit. Vielmehr halten sie uns den Spiegel vor: Wo immer sie auftreten, deuten sie auf Schwachstellen im System hin. Das können auch politische und gesellschaftliche Faktoren sein, etwa Personalmangel im Gesundheitswesen, Schließung von Hausarztpraxen, fehlende Präventionsangebote oder unzureichende Vernetzung der Hilfesysteme. 

Wege aus dem Teufelskreis: Was können wir tun?

Angesichts dieser Erkenntnisse stellt sich die Frage: Was können wir im Rettungsdienst ändern, um die Situation zu verbessern? Zunächst einmal gilt es, die eigene Haltung zu reflektieren. Wir dürfen uns bewusst machen, dass unsere Frustration zwar verständlich, aber für die Patient:innen wenig hilfreich ist. Empathie und Professionalität sollten auch bei der zehnten Alarmierung zum gleichen Menschen nicht verloren gehen. Jeder Patient – auch der scheinbar „immergleiche“ – verdient eine sorgfältige Beurteilung. Versuchen wir, die Geschichte hinter dem Notruf zu verstehen: Lebt die Person allein? Gibt es soziale oder psychische Probleme, die im Hintergrund schwelen? Schon im Gespräch kann man Hinweise darauf bekommen. Eine gründliche Dokumentation solcher Einsätze – so mühsam es im stressigen Alltag ist – kann später helfen, Lösungen zu finden, indem sie Muster und Bedürfnisse offenbart.

Dieses ganzheitliche Fallverstehen ist übrigens ein wesentlicher Bestandteil von professionellem Handeln (Oevermann, 1996). Wer die Patient:innen einfach in die Notaufnahmen verlagert ohne die Komplexität deren sozialen Wirklichkeit zu adressieren, schadet damit auch möglicherweise der Wahrnehmung seiner Person und des Berufsbildes als professionell handelnde. 

Doch natürlich stoßen die einzelnen Rettungsteams allein an Grenzen. Systemische Probleme verlangen systemische Lösungen. Ein Ansatz, den Experten vorschlagen, ist die Einführung von Fallmanagement-Programmen für Frequent User (Breuer et al., 2020). Im Ausland gibt es bereits erfolgreiche Beispiele: In Großbritannien und den USA wurden speziellen Case Manager oder sogenannte Community Paramedics eingesetzt, die sich gezielt um frequent Users kümmern (Edwards et al., 2015). Diese Fachleute nehmen nach wiederholten Einsätzen Kontakt zu den Betroffenen auf, analysieren deren Situation und koordinieren Hilfsangebote – z.B. vermitteln sie hausärztliche Termine, Sozialarbeiter oder suchtspezifische Hilfe. Solche individuellen Betreuungskonzepte konnten in Studien die Notrufzahlen deutlich senken. Auch hierzulande wird diese Idee diskutiert: Ein interdisziplinäres Case Management und ein proaktiver, vielleicht sogar präventiver Ansatz könnte vielversprechend sein (Breuer et al., 2023; Schodlok et al., 2023). Dieser Paradigmenwechsel würde bedeuten, dass der Rettungsdienst nicht nur „löscht“, sondern mit anderen Akteuren verhindert, dass es immer wieder brennt. Pilotprojekte mit Gemeindenotfallsanitäter:innen gehen bereits in diese Richtung – sie könnten regulär gewisse Einsätze abfangen oder Nachsorge leisten, um Frequent User besser zu versorgen und künftig Notrufe zu vermeiden.

Darüber hinaus braucht es ein Netzwerk im Hintergrund. Rettungsleitstellen und -dienste sollten eng mit sozialen Einrichtungen, Hausärzten, Psychiatrien und Pflegeangeboten kooperieren. Wenn ein Rettungsteam vor Ort merkt, der Patient hat eigentlich kein akutes medizinisches Problem, aber offensichtlich Unterstützungsbedarf, sollte es unkomplizierte Wege geben, diesen Fall an passende Stellen zu übergeben – sei es ein sozialpsychiatrischer Dienst, ein Pflegedienst oder ein Angehöriger. Momentan enden solche Einsätze meist in der Notaufnahme, wo das Grundproblem ebenfalls nicht gelöst wird. Hier könnten Lotsenfunktionen in der Leitstelle ausgebaut werden, um alternative Hilfen zu aktivieren anstatt routinemäßig die Beförderung ins Krankenhaus.

Schönemann-Gieck et al. (2023) beschreiben ein erfolgreiches Modell in Wiesbaden, bei dem Frequent User mit komplexen Versorgungsproblemen frühzeitig durch ein interdisziplinäres Fallmanagement betreut werden. Durch gezielte Analyse der individuellen Situation, Koordination ambulanter Hilfsangebote und kontinuierliche Nachsorge konnten unnötige Notaufnahmebesuche deutlich reduziert werden. Dieser Ansatz zeigt, dass eine enge Zusammenarbeit von Rettungsdienst, Hausärzten, Sozialdiensten und weiteren Akteuren wirksam verhindern kann, dass Patient:innen mit eigentlich nicht-notfallrelevanten Problemen immer wieder in der Notaufnahme landen.

Solche Lösungen laufen allerdings aktuell in Deutschland im Projektstatus, da eine Übernahme in die Regelversorgung an vielen Stellen Probleme verursacht, daher muss auch die Politik mit ins Boot. Frequent User zeigen, wo Ressourcen fehlen. Wenn beispielsweise in einer Region überdurchschnittlich viele Frequent-Caller-Einsätze wegen „Versorgungsproblemen“ passieren, gehört dieses Thema auf den Tisch der Gesundheitsplanung – vielleicht braucht es dort mehr hausärztliche Bereitschaftsdienste, Telemedizin-Angebote oder Präventionsprogramme. Der Rettungsdienst kann diese Daten liefern und so zu Veränderungen beitragen, anstatt nur die Symptome zu bekämpfen.

Teil des Problems – und Teil der Lösung

Frequent User sind kein Ärgernis, das man einfach „wegorganisieren“ kann – sie sind ein Warnsignal. Jeder wiederholte Einsatz ist ein Hinweis darauf, dass an anderer Stelle im Gesundheits- oder Sozialsystem etwas nicht greift. Für uns im Rettungsdienst bedeutet das: Wir müssen sie nicht nur als Herausforderung sehen, sondern als Chance, Strukturen zu verbessern.

Das beginnt im Kleinen – mit professioneller Haltung, sorgfältiger Untersuchung und vollständiger Dokumentation, auch beim zehnten Einsatz zur gleichen Person. Und es geht weit darüber hinaus: mit interdisziplinären Fallmanagement-Programmen, enger Vernetzung zu sozialen Diensten und politischen Entscheidungen, die Versorgungslücken schließen.

Wer Frequent User nur als „Problemfälle“ betrachtet, verpasst die Gelegenheit, durch gezielte Zusammenarbeit und Prävention Einsätze zu reduzieren, Ressourcen zu entlasten und Patientensicherheit zu erhöhen. Statt im Einsatzwagen zu denken „Schon wieder der/die“, könnten wir uns fragen: „Was braucht dieser Mensch, damit wir uns hier nicht wiedersehen?“ – und gemeinsam an einer Antwort arbeiten.

Quellen

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Breuer, F., Beckers, S. K., Dahmen, J., Gnirke, A., Pommerenke, C., & Poloczek, S. (2023). Vorbeugender Rettungsdienst – präventive Ansätze und Förderung von Gesundheitskompetenz an den Schnittstellen zur Notfallrettung. Die Anaesthesiologie72(5), 358–368. https://doi.org/10.1007/s00101-023-01272-6

Breuer, F., Pommerenke, C., Wollenhaupt, L., Brettschneider, P., & Poloczek, S. (2020). Vorkommen von Frequent Usern und Frequent Callern in einem großstädtischen Rettungsdienst: Indikatoren eines unzureichenden Gesundheits- und Sozialsystems? Notfall + Rettungsmedizin23(2), 122–131. https://doi.org/10.1007/s10049-019-0600-6

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