
Schmerz ist nicht gleich Schmerz: Warum der Rettungsdienst kulturell sensibler werden muss
Schmerz als soziokulturelles Phänomen
Schmerz ist kein rein physiologisches Signal, sondern ein subjektives Erleben, das durch biologische, psychologische und soziale Faktoren beeinflusst wird. Die International Association for the Study of Pain (IASP) definiert Schmerz als „ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit tatsächlichem oder potentiellem Gewebeschaden verknüpft ist oder mit Begriffen eines solchen Schadens beschrieben wird“.[1] Diese Definition unterstreicht den subjektiven Charakter des Schmerzes und macht deutlich, dass Schmerz weit über das hinausgeht, was objektiv messbar ist.
Das soziale Kommunikationsmodell des Schmerzes von Craig [2] erweitert diese Sichtweise. Es betrachtet Schmerz als interaktiven Prozess, der in einem sozialen Kontext erlebt, ausgedrückt, interpretiert und beantwortet wird. Schmerzäußerung ist dabei nicht nur ein individuelles Verhalten, sondern ein Akt der Kommunikation, der auf eine Reaktion abzielt. Diese Reaktion beeinflusst wiederum das Schmerzerleben selbst. Der Schmerz wird also nicht nur gefühlt, sondern auch sozial verhandelt.
Zentrale Elemente des Modells sind die Schmerzkommunikation durch die leidende Person, die Beobachtung und Interpretation durch Dritte (z. B. Rettungsdienstpersonal) und die darauffolgende Reaktion. Die Qualität dieser Reaktion hat unmittelbare Auswirkungen auf die Erfahrung des Schmerzes: Ignorieren oder Abwertung verstärken häufig das Leid, während empathisches und unterstützendes Verhalten eine lindernde Wirkung haben kann.[2]
Kulturelle Unterschiede in der Schmerzkommunikation sind dabei von zentraler Bedeutung. Studien zeigen, dass kulturelle Normen und Werte beeinflussen, ob, wie und in welchem Ausmaß Menschen Schmerzen äußern. Während in individualistisch geprägten Kulturen wie Deutschland eine zurückhaltende, „kontrollierte“ Schmerzäußerung als angemessen gilt, ist in kollektivistischen Kulturen ein expressiver Umgang mit Schmerz eher akzeptiert oder sogar erwartet.[3]
Diese kulturellen Prägungen betreffen sowohl Patient:innen als auch das medizinische Personal. Ein Rettungsdienstmitarbeiter, der auf Grundlage eigener kultureller Normen urteilt, könnte expressive Schmerzäußerungen als übertrieben oder manipulativ interpretieren. Dies führt leicht zu inadäquater Versorgung, insbesondere wenn keine interkulturelle Schulung erfolgt ist. Schmerz kann dann entweder nicht erkannt oder bewusst abgewertet werden.
Auch psychosoziale Faktoren wie Scham, Geschlechterrollen, religiöse Überzeugungen oder der Status innerhalb einer Gemeinschaft beeinflussen die Art und Weise, wie Menschen über Schmerz sprechen. In einigen Kulturen wird es als ehrenhaft angesehen, Schmerz still zu ertragen. In anderen wiederum kann das lautstarke Äußern von Schmerz ein legitimes Mittel sein, um soziale Unterstützung zu mobilisieren.[4]
Ein oft unterschätzter Aspekt ist die sogenannte „Schmerzvalidierung“: Die Erfahrung, dass Schmerz von anderen anerkannt wird, wirkt sich nachweislich positiv auf das Schmerzempfinden aus. Umgekehrt führt fehlende Anerkennung zu Frustration, Verzweiflung und zu einer Verschlechterung des Schmerzerlebens. Für Rettungsdienstpersonal bedeutet dies: Nicht nur die Gabe von Analgetika, sondern auch die ernsthafte Zuwendung ist Teil einer wirksamen Schmerztherapie.
Das deutsche Schmerzverständnis
Das deutsche Verständnis von Schmerz ist historisch durch Rationalität, Objektivierbarkeit und eine funktionale Sichtweise auf den Körper geprägt. Die Dominanz standardisierter Skalen wie der numerischen Ratingskala (NRS) oder der visuellen Analogskala (VAS) spiegelt ein biomedizinisches Paradigma wider, das Schmerz in messbare Einheiten zu fassen versucht.[5] Diese Verfahren haben zweifellos diagnostischen Wert, setzen jedoch ein gleichförmiges Ausdrucksverhalten voraus, das kulturell nicht universell ist.
Darüber hinaus ist das deutsche Schmerzverständnis stark von der Idee der Kontrolle über den Körper beeinflusst. In der deutschen Medizingeschichte wurde Schmerz häufig mit Disziplin, Leistung und Selbstbeherrschung assoziiert. Wer Schmerz zeigt, stellt sich gewissermaßen außerhalb der gesellschaftlich akzeptierten Norm. Diese Haltung hat tiefe kulturelle Wurzeln. Die Erziehungsratgeber von Johanna Haarer aus der NS-Zeit, die bis weit in die Nachkriegszeit rezipiert wurden, propagierten eine emotionale Kälte und das Ideal der Härte – auch gegenüber sich selbst.[6]
Diese kulturelle Prägung wirkt bis heute nach. So gilt es in vielen medizinischen Kontexten nach wie vor als „professionell“, Emotionen zu kontrollieren und sich auf das „Wesentliche“ zu konzentrieren. Schmerzäußerung wird dabei nicht selten als störend oder als Zeichen mangelnder Selbstdisziplin verstanden. Das betrifft nicht nur das medizinische Personal, sondern auch Patient:innen, die sich diesem impliziten Normdruck unterwerfen – oder bewusst dagegen verstoßen und dann mit Ablehnung rechnen müssen.
Ein besonders problematischer Ausdruck dieser kulturellen Verzerrung ist das Konzept des „Morbus Mediterraneus“. Ursprünglich als diagnostische Kategorie eingeführt, wurde es schnell zu einem Synonym für die Abwertung bestimmter Schmerzäußerungen – insbesondere bei Menschen mit Herkunft aus dem Mittelmeerraum.[7] Diese Kategorisierung dient nicht nur der Entwertung, sondern auch der Legitimation von Unterversorgung.
Empirische Untersuchungen belegen, dass Menschen mit Migrationshintergrund im deutschen Gesundheitswesen systematisch benachteiligt sind – sowohl in der diagnostischen Einschätzung als auch in der therapeutischen Versorgung.[8] Bei der Schmerzbehandlung äußert sich dies u. a. in einer geringeren Wahrscheinlichkeit, Analgetika zu erhalten, sowie in einer höheren Rate unbehandelter Schmerzzustände.
Das deutsche Schmerzverständnis ist also nicht nur medizinisch geprägt, sondern auch kulturell und historisch konstruiert. Es wirkt als normatives Raster, durch das Schmerzäußerungen bewertet und in ihrer Bedeutung eingeschränkt werden. Der Rettungsdienst ist Teil dieses Systems – aber auch ein Ort, an dem diese Muster durchbrochen werden können.
Was sich im deutschen Rettungsdienst ändern muss
Wenn wir es ernst meinen mit Gleichbehandlung, müssen wir im Rettungsdienst kulturelle Sensibilität als Grundhaltung verankern. Dazu gehört:
➡️ Ausbildung erweitern: Kulturelle Kompetenz muss fester Bestandteil rettungsdienstlicher Curricula sein – nicht als Randthema, sondern als zentrales Qualifikationsziel. Es braucht Schulungen zu kulturellen Schmerzkonzepten, Reflexion eigener Vorurteile und praxisnahe Kommunikationstrainings.
➡️ Empathie systematisch fördern: Empathie ist keine Privatangelegenheit, sondern berufliche Kernkompetenz. Sie muss erlernt, geübt und bewertet werden. Dazu gehören auch Techniken des aktiven Zuhörens und der nonverbalen Kommunikation.
➡️ Diversität als Normalfall anerkennen: Die Lebenswirklichkeit in Deutschland ist plural. Patient:innen bringen unterschiedliche Sprachkompetenzen, religiöse Prägungen und kulturelle Erwartungen mit. Der Rettungsdienst muss lernen, damit souverän umzugehen – ohne zu pathologisieren oder zu stigmatisieren.
➡️ Dolmetscherdienste und Hilfsmittel etablieren: Sprachbarrieren dürfen nicht zur Schmerzbarriere werden. Der Einsatz von Übersetzungs-Apps, Piktogrammen oder KI-basierten oder telefonischen Dolmetscherdiensten muss im Einsatzfall selbstverständlich sein.
➡️ Strukturellen Rassismus erkennen: Es reicht nicht, individuelle Vorurteile zu reflektieren. Auch institutionelle Routinen müssen hinterfragt werden: Wer wird wie oft medikamentös behandelt? Welche Patient:innengruppen verlassen sich auf den Rettungsdienst, weil sie anderswo kein Gehör finden?
➡️ Haltung zeigen: Wer schweigt, stimmt zu. Es braucht eine Haltung, die Vielfalt nicht als Störfaktor begreift, sondern als selbstverständliche Grundlage professionellen Handelns.
Fazit
Der Schmerz spricht viele Sprachen. Wer ihn verstehen will, muss zuhören – auch jenseits der eigenen Erfahrung. Der Rettungsdienst hat die Chance, hier Vorreiter zu sein: durch Schulung, Reflexion und mutiges Handeln. Kulturelle Sensibilität rettet keine Sekunden – aber sie rettet Vertrauen, Würde und Gerechtigkeit.
Quellen:
[1] International Association for the Study of Pain. (2020, July 16). IASP Announces Revised Definition of Pain. https://www.iasp-pain.org/publications/iasp-news/iasp-announces-revised-definition-of-pain/
[2] Craig, K. D. (2015). Social communication model of pain. Pain, 156(7), 1198–1199. https://doi.org/10.1097/j.pain.0000000000000185
[3] Green, C. R., Anderson, K. O., Baker, T. A., Campbell, L. C., Decker, S., Fillingim, R. B., Kaloukalani, D. A., Lasch, K. E., Myers, C., Tait, R. C., Todd, K. H., & Vallerand, A. H. (2003). The Unequal Burden of Pain: Confronting Racial and Ethnic Disparities in Pain. Pain Medicine, 4(3), 277–294. https://doi.org/10.1046/j.1526-4637.2003.03034.x
[4] Tait, R. C., & Chibnall, J. T. (2014). Racial/ethnic disparities in the assessment and treatment of pain: Psychosocial perspectives. American Psychologist, 69(2), 131–141. https://doi.org/10.1037/a0035204
[5] Akbas, S., Castellucci, C., Nehls, F., Müller, S. M., Spahn, D. R., & Kaserer, A. (2022). Präklinische Schmerztherapie: Übersicht und Verbesserungsmöglichkeiten. Praxis, 111(3), 157–162. https://doi.org/10.1024/1661-8157/a003810
[6] Kratzer, A. (2018). Warum Hitler bis heute die Erziehung von Kindern beeinflusst. Die Zeit, September 2018, 1–9. https://www.zeit.de/wissen/geschichte/2018-07/ns-geschichte-mutter-kind-beziehung-kindererziehung-nazizeit-adolf-hitler
[7] Freund, A. (2025, April 15). “Morbus Mediterraneus” – Diagnose: Vorurteil. DW – Deutsche Welle. https://www.dw.com/de/morbus-mediterraneus-diagnose-vorurteil/a-72191254
[8] Deutsches Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM). (2023). Rassismus und seine Symptome. https://doi.org/https://www.rassismusmonitor.de/fileadmin/user_upload/NaDiRa/Rassismus_Symptome/Rassismus_und_seine_Symptome.pdf