
„Bagatelleinsätze“ als Motor der Professionalisierung des Notfallsanitäterberufs
Der Begriff „Bagatelleinsatz“ ist im deutschen Rettungsdienst allgegenwärtig, zugleich jedoch unscharf und normativ aufgeladen. Gemeint sind Einsätze, die nach gängiger Einschätzung der Leitstellen oder der Einsatzkräfte keine vital bedrohlichen Notfälle darstellen, sondern in eine Kategorie „niedriger Dringlichkeit“ fallen. Dazu gehören etwa Stürze ohne Verletzungsfolgen, akute, aber selbstlimitierende Beschwerden, chronische Symptomverschlechterungen oder auch soziale Probleme, die nicht primär medizinischer Natur sind. Die Bezeichnung „Bagatelle“ suggeriert eine Trivialität, die sich bei genauer Betrachtung nicht immer bestätigt. In vielen Fällen bestehen erhebliche Versorgungsbedarfe, die nicht durch eine reine Transportlogik gedeckt werden können (Flake et al., 2018; Seeger et al., 2021). Gerade in dieser Grauzone eröffnen sich für Notfallsanitäter:innen Chancen zur Erweiterung ihrer Rolle: weg vom Bild des reinen Transportpersonals hin zu eigenständigen Akteur:innen im Gesundheitssystem.
Begriffliche Einordnung: Warum „Bagatelle“ problematisch ist
Die Rede von „Bagatelleinsätzen“ ist nicht nur ungenau, sondern auch professionell problematisch. Der Ausdruck suggeriert, es handele sich um medizinisch triviale Situationen ohne ernsthafte Relevanz. Studien zeigen jedoch, dass viele dieser Einsätze zwar keine akuten Vitalgefahren bergen, aber dennoch einen komplexen Versorgungsbedarf aufweisen können – sei es aufgrund von Multimorbidität, eingeschränkter Mobilität, psychosozialen Problemen oder fehlender Anbindung an hausärztliche Strukturen (Ebben et al., 2017). Aus Patient:innensicht handelt es sich zudem selten um Bagatellen: Für Betroffene sind die Beschwerden oder Unsicherheiten durchaus belastend und der Rettungsdienst wird in einer real empfundenen Notlage gerufen (O’Hara et al., 2015).
Darüber hinaus kann der Begriff den Eindruck erwecken, dass Ressourcen zweckentfremdet oder missbräuchlich eingesetzt würden. Diese Zuschreibung verkennt, dass niedrig dringliche Einsätze in vielen Fällen das Ergebnis struktureller Lücken in der ambulanten Versorgung sind. Soziale Isolation, mangelnde Erreichbarkeit ärztlicher Dienste außerhalb regulärer Öffnungszeiten oder fehlende Pflegekapazitäten führen dazu, dass der Rettungsdienst zur letzten erreichbaren Instanz wird (Lubasch et al., 2024). Den Hilfesuchenden eine Bagatellisierung ihrer Anliegen entgegenzuhalten, läuft damit Gefahr, den Rettungsdienst von seiner Rolle als niedrigschwelliger Zugang zum Gesundheitssystem zu entfremden.
Statt von „Bagatelleinsätzen“ zu sprechen, plädieren Fachautor:innen daher zunehmend für neutralere Begriffe wie „niedrig dringliche Notfalleinsätze“ oder „nicht zeitkritische Einsätze“ (Knowles et al., 2020). Solche Bezeichnungen sind nicht nur weniger stigmatisierend, sondern ermöglichen auch eine präzisere Kategorisierung. Aus wissenschaftlicher und professionstheoretischer Sicht ist es deshalb geboten, den Terminus „Bagatelle“ kritisch zu hinterfragen und durch differenziertere Konzepte zu ersetzen.
Im Verlauf dieses Beitrages wird deshalb von Subakuten Hilfeleistungsersuchen (SAHE) gesprochen. Der Begriff wurde gewählt, weil er den Charakter dieser Einsätze präziser beschreibt: „subakut“ verweist darauf, dass es sich nicht um vital akute Notfälle handelt, gleichzeitig aber ein realer Versorgungsbedarf besteht; ‚Hilfeleistungsersuchen‘ betont die subjektive Notlage der Patient:innen und vermeidet eine abwertende Konnotation. Auf diese Weise soll ein neutralerer und professionellerer Sprachgebrauch etabliert werden.
Professionelle Diversifizierung und Rollenentwicklung
Seit Inkrafttreten des Notfallsanitätergesetzes (NotSanG) im Jahr 2014 und den darauf folgenden Anpassungen ist der Beruf der Notfallsanitäter:innen formal gestärkt und professionalisiert worden. Gleichwohl zeigt der berufliche Alltag vielerorts noch ein stark transportzentriertes Muster, bei dem die Hauptaufgabe in der Zuweisung der Patient:innen in den Schockraum oder die Notaufnahme liegt. SAHE stellen hier eine entscheidende Abweichung dar. Sie zwingen zu einer differenzierten Anamnese, zur Einschätzung von Risikoprofilen und zu Entscheidungen, die nicht unmittelbar durch klassische Rettungsmedizin oder Notfallinterventionen aufgelöst werden können.
Das Modell des Gemeindenotfallsanitäters (G-NFS) hat exemplarisch gezeigt, wie sich aus dieser Ausgangslage neue professionelle Aufgabenprofile entwickeln können. Evaluationsstudien aus der Region Oldenburg dokumentieren, dass die Mehrheit der Patient:innen durch die Intervention von G-NFS vor Ort versorgt oder gezielt an ambulante Strukturen weitergeleitet werden konnte (Sommer et al., 2022). Dabei reichten die Tätigkeiten von Wundversorgung und Medikation über die Koordination mit Hausärzt:innen und Pflegediensten bis hin zu Beratungs- und Edukationsleistungen. Ähnliche Ergebnisse finden sich in Großbritannien, wo Paramedic Practitioners in niedrig dringlichen Fällen eigenständig Entscheidungen treffen und alternative Versorgungspfade eröffnen (Knowles et al., 2020).
Diese Diversifizierung ist mehr als nur eine pragmatische Antwort auf Ressourcenengpässe. Sie trägt zu einem neuen Rollenverständnis bei: Notfallsanitäter:innen agieren als eigenständige Gesundheitsprofessionelle, die nicht allein als „Zulieferer:innen“ für Notaufnahmen, sondern als Gatekeeper, Koordinator:innen und Begleiter:innen im Versorgungssystem auftreten.
Gesundheitsversorgung statt reinem Transport
Im Kern geht es um die Verschiebung von einer transportorientierten hin zu einer versorgungsorientierten Logik. Niedrig dringliche Einsätze eröffnen die Möglichkeit, Patient:innen nicht nur von A nach B zu bringen, sondern sie direkt und nachhaltig an die geeignete Versorgungsarrangements anzubinden.
Die internationale Literatur zum Konzept des Community Paramedicine verdeutlicht, dass gerade SAHE ein ideales Feld darstellen, um Gesundheitsversorgung niedrigschwellig und patientenzentriert zu realisieren. Studien aus den USA und Kanada zeigen, dass sich durch gezielte Interventionen in solchen Fällen Krankenhausaufnahmen reduzieren und Wiedereinweisungen senken lassen, während die Patient:innen von einer höheren Kontinuität der Versorgung profitieren (Spelten et al., 2024; U.S. Centers for Disease Control and Prevention, 2024).
Die bei SAHE typischen Tätigkeiten – Anamnese, Symptomkontrolle, Patientenedukation, Vermittlung in weiterführende Versorgung – sind genuin gesundheitsbezogen. Gerade hier wird der Unterschied zwischen einer rein rettungsmedizinischen und einer breiter verstandenen gesundheitlichen Profession sichtbar.
Sicherheit, Wirksamkeit und Grenzen
Ein zentrales Gegenargument lautet, dass Nichttransporte mit Risiken behaftet seien. Diese Sorge ist berechtigt, doch empirisch nur bedingt gestützt. Systematische Übersichtsarbeiten zeigen, dass Non-Conveyance-Strategien unter klar definierten Bedingungen nicht zu einer erhöhten Mortalität oder Morbidität führen (Ebben et al., 2017). Vielmehr hängt die Sicherheit stark von Clinical Guidelines, Supervision und Anbindung an Anschlussversorgung ab. Randomisierte Studien, etwa das SAFER-Programm in Wales, dokumentieren, dass Transporte reduziert werden können, ohne dass Patient:innen daraus Schaden entstehen würde (Snooks et al., 2014).
Auch deutsche Erfahrungen bestätigen diese Befunde. Telemedizinische Systeme wie der Telenotarzt bieten zusätzliche Sicherheit, indem sie die Entscheidung von Notfallsanitäter:innen in Echtzeit unterstützen (Lubasch et al., 2024).
Gleichzeitig ist klar, dass SAHE nicht als „Restkategorie“ betrachtet werden dürfen, in der beliebige Probleme landen. Es braucht klare Definitionen, welche Situationen vor Ort abschließend behandelt, welche weitergeleitet und welche zwingend transportiert gehören.
Kritische Argumente und professionelle Antworten
Die Kritik, SAHE würden wertvolle Ressourcen binden, ist in einem engen Verständnis des Rettungsdienstes nachvollziehbar. Doch wenn man das Einsatzfeld als Chance zur Diversifizierung versteht, zeigt sich ein anderes Bild: Jeder Einsatz, der vor Ort angemessen gelöst werden kann, entlastet die Notaufnahmen und verringert unnötige Transporte. Ebenso häufig wird die Rechtsunsicherheit thematisiert. Auch hier ist die Antwort nicht Vermeidung, sondern Standardisierung. Das NotSanG bietet bereits einen klaren Rahmen, der durch lokale SOPs, ärztliche Leitung und telemedizinische Unterstützung präzisiert werden kann.
Ein weiteres Argument betrifft die Steuerungsqualität der Leitstellen. Tatsächlich besteht hier Nachholbedarf. Strukturierten Notrufabfragen und die Integration von 112 und 116117 kommt deshalb besondere Bedeutung zu. Pilotprojekte in Bayern zeigen, dass durch diese Verknüpfung Fehlsteuerungen reduziert werden können (Krafft et al., 2022). SAHE sind in diesem Kontext nicht das Problem, sondern vielmehr ein Testfeld für die Wirksamkeit neuer Steuerungslogiken.
Der „kleine Einsatz“ als Prüfstein der Professionalisierung
Wenn SAHE nur als lästige Störung begriffen werden, verschenkt der Rettungsdienst ein entscheidendes Feld seiner Professionalisierung. In Wahrheit sind es diese Fälle, die den Übergang vom klassischen technisch-handwerklichen Berufsverständnis zu einer eigenständigen Gesundheitsprofession markieren können. Notfallsanitäter:innen, die in der Lage sind, niedrig dringliche, aber komplexe Situationen eigenständig zu managen, verdeutlichen den Mehrwert ihres Berufs. In Großbritannien beispielsweise hat die Akzeptanz durch und die Integration dieser Einsätze in das rettungsdienstliche Tätigkeitsspektrum dazu geführt, dass Paramedics eigenständig Medikamente verschreiben dürfen. Dies ist ein Beispiel für das Erschließen neuer professioneller Handlungsräume und führte beispielsweise dazu, dass sich Paramedics neue Tätigkeitsbereiche (z.B. in Hausarztpraxen) erschließen konnten (Best & Taylor, 2021).
Wir sollten deshalb SAHE nicht länger als Randerscheinung abtun, sondern sie als zentrale Lern- und Entwicklungsfelder begreifen. Sie zeigen, ob der Rettungsdienst fähig ist, echte Gesundheitsversorgung zu leisten und nicht nur Probleme in die Notaufnahmen zu verlagern. Professionalisierung entsteht genau hier: im souveränen Umgang mit dem vermeintlich Kleinen, das in Wahrheit den Unterschied macht.
Quellen
Best, P., & Taylor, V. (2021). Paramedic prescribing: implementation in practice. Journal of Paramedic Practice, 13(1), 14–23. https://doi.org/10.12968/jpar.2021.13.1.14
Ebben, R. H. A., Vloet, L. C. M., Speijers, R. F., Tönjes, N. W., Loef, J., Pelgrim, T., Hoogeveen, M., & Berben, S. A. A. (2017). A patient-safety and professional perspective on non-conveyance in ambulance care: a systematic review. Scandinavian Journal of Trauma, Resuscitation and Emergency Medicine, 25(1), 71. https://doi.org/10.1186/s13049-017-0409-6
Flake, F., Schmitt, L., Oltmanns, W., Peter, M., Thate, S., Scheinichen, F., & Peters, O. (2018). Das Konzept Gemeindenotfallsanitäter/in. Notfall + Rettungsmedizin, 21(5), 395–401. https://doi.org/10.1007/s10049-018-0426-7
Knowles, E., Long, J., & Turner, J. (2020). Reducing avoidable ambulance conveyance in England: Interventions and associated evidence. https://aace.org.uk/wp-content/uploads/2020/08/ScHARR-report-SRAC-Final-020320-.pdf
Krafft, T., Neuerer, M., Böbel, S., & Reuter-Oppermann, M. (2022). Notfallversorgung & Rettungsdienst in Deutschland: Partikularismus vs. Systemdenken. https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/user_upload/Studie_Notfallversorgung.pdf
Lubasch, J. S., Beierle, S., Marewski, V. S., Rehbock, C., Thate, S., Schröder, H., Beckers, S. K., Sommer, A., & Seeger, I. (2024). Alternative Versorgungskonzepte für niedrigprioritäre Einsätze im deutschen Rettungsdienst – deskriptive Ergebnisse einer Online-Befragung. Zeitschrift Für Evidenz, Fortbildung Und Qualität Im Gesundheitswesen, 190–191, 92–100. https://doi.org/10.1016/j.zefq.2024.07.008
O’Hara, R., Johnson, M., Siriwardena, A. N., Weyman, A., Turner, J., Shaw, D., Mortimer, P., Newman, C., Hirst, E., Storey, M., Mason, S., Quinn, T., & Shewan, J. (2015). A qualitative study of systemic influences on paramedic decision making: care transitions and patient safety. Journal of Health Services Research & Policy, 20(1_suppl), 45–53. https://doi.org/10.1177/1355819614558472
Seeger, I., Klausen, A., Thate, S., Flake, F., Peters, O., Rempe, W., Peter, M., Scheinichen, F., Günther, U., Röhrig, R., & Weyland, A. (2021). Gemeindenotfallsanitäter als innovatives Einsatzmittel in der Notfallversorgung – erste Ergebnisse einer Beobachtungsstudie. Notfall + Rettungsmedizin, 24(3), 194–202. https://doi.org/10.1007/s10049-020-00715-6
Snooks, H. A., Carter, B., Dale, J., Foster, T., Humphreys, I., Logan, P. A., Lyons, R. A., Mason, S. M., Phillips, C. J., Sanchez, A., Wani, M., Watkins, A., Wells, B. E., Whitfield, R., & Russell, I. T. (2014). Support and Assessment for Fall Emergency Referrals (SAFER 1): Cluster Randomised Trial of Computerised Clinical Decision Support for Paramedics. PLoS ONE, 9(9), e106436. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0106436
Sommer, A., Rehbock, C., Seeger, I., Klausen, A., Günther, U., Schröder, H., Neuerer, M., Beckers, S. K., & Krafft, T. (2022). Zwei Jahre Pilotphase Gemeindenotfallsanitäter in der Region Oldenburg (Niedersachsen). Notfall + Rettungsmedizin. https://doi.org/10.1007/s10049-022-01079-9
Spelten, E., Thomas, B., van Vuuren, J., Hardman, R., Burns, D., O’Meara, P., & Reynolds, L. (2024). Implementing community paramedicine: A known player in a new role. A narrative review. Australasian Emergency Care, 27(1), 21–25. https://doi.org/10.1016/j.auec.2023.07.003
U.S. Centers for Disease Control and Prevention. (2024). Emergency Medical Services (EMS) and Community Paramedicine: The Value of Community Paramedicine. https://www.cdc.gov/ems-community-paramedicine/php/data-research/community-paramedicine/index.html