
Forschung im Rettungsdienst: Neutral analysieren oder auch Werturteile vertreten?
In der rettungswissenschaftlichen und notfallmedizinischen Forschung stellt sich immer wieder die Frage, wie sehr Wissenschaft „neutral“ bleiben muss. Der historische Werturteilsstreit – ein Methodenstreit darüber, ob Wissenschaftler normative, verbindliche „Soll“-Aussagen machen dürfen oder strikt bei objektiven Analysen des „Seins“ bleiben – ist auch heute noch relevant [1].
Bereits vor über 100 Jahren betonte Max Weber, Wissenschaft solle frei von persönlichen Wertungen sein. Er lehnte es ab, dass Forschende vom „Katheder“ aus moralische Urteile verkünden, und forderte eine strikte Trennung zwischen Wertungen einerseits und der Beschreibung sozialer Fakten [2]. Anders gesagt: Was ist (Tatsachen) und was sein soll (Werturteile) dürfe nicht vermischt werden. Dadurch – so Webers Argument – bleibe Wissenschaft objektiv und schütze sich davor, zur Ideologie zu werden. Auf der anderen Seite gab es schon damals Stimmen, die Wissenschaft in einer aktiveren Rolle sahen. Vertreter der Kathedersozialisten etwa fanden es legitim, wenn Forschende auch gesellschaftliche Missstände benennen und Lösungsvorschläge einbringen – also Werte vertreten und nicht nur beobachten.
Heute, in der Notfallmedizin und Rettungswissenschaft, erleben wir diese Spannung erneut. Unsere Studien haben oft direkte Auswirkungen auf die Praxis: Sie können Ausbildungsinhalte verändern, Behandlungsleitlinien beeinflussen oder politische Entscheidungen anstoßen. Sollen wir Forschenden uns darauf beschränken, neutral Daten zu erheben und zu berichten – und die Wertungen anderen (z. B. der Politik oder den Berufsverbänden) überlassen? Oder dürfen und sollen wir selbst Stellung beziehen? Beispielsweise wenn eine Studie zeigt, dass ein bestimmtes Vorgehen in der Patientenversorgung deutliche Vorteile bringt – sollen wir dann nur die Zahlen präsentieren, oder auch aktiv empfehlen, dieses Vorgehen umzusetzen?
Viele Expert:innen sind heute der Meinung, dass völlige Wertneutralität in der angewandten Forschung kaum möglich (und auch nicht wünschenswert) ist. Gerade im Gesundheitswesen fließen Werte ständig implizit mit ein – etwa schon bei der Wahl, welche Forschungsfragen wir wichtig finden, oder bei der Definition von „Erfolg“ und „Qualität“ in der Versorgung. Ein Memorandum aus der Versorgungsforschung formuliert es deutlich: Die medizinische Versorgung ist immer wertgeleitet, selbst wenn uns das nicht immer bewusst ist – „Daher kann und wird es keine wertfreie Versorgungsforschung geben.“ [3]. Mit anderen Worten: Wissenschaftliches Arbeiten ist nie völlig losgelöst von Werten; entscheidend ist, dass wir diese Werte offenlegen und reflektieren, anstatt sie zu verstecken.
Für die rettungswissenschaftliche Forschung bedeutet das aus meiner Sicht: Sie darf und soll ruhig Haltung zeigen. Wir können objektiv und evidenzbasiert arbeiten und trotzdem klar benennen, wofür wir stehen – etwa für das Ziel einer bestmöglichen Patientenversorgung, für mehr Sicherheit und Qualität, oder für humane Arbeitsbedingungen im Rettungsdienst. Wichtig ist nur, dass wir sauber trennen, wo unsere Datenauswertung endet und wo unsere persönliche Empfehlung beginnt. So bleibt die wissenschaftliche Glaubwürdigkeit gewahrt, und zugleich verleugnen wir nicht, dass uns bestimmte Werte antreiben (z. B. Patientenwohl, Gerechtigkeit oder Effizienz). Forschung darf also durchaus Werte vertreten – sofern sie transparent macht, welche Werte das sind, und die Faktenlage dadurch nicht verzerrt.
Schlussendlich kann rettungswissenschaftliche Forschung beides: Sie liefert nüchterne Analysen und gibt Impulse, wie wir die Praxis verbessern können. Diese Rollen müssen kein Widerspruch sein, sondern können sich ergänzen. Wissenschaft wird erst lebendig, wenn sie Auswirkungen hat – und gerade in unserem Bereich geht es am Ende immer um Menschenleben, Ethik und gesellschaftliche Werte.
Wie sehen Sie das? Sollte wissenschaftliche Forschung im Rettungsdienst strikt neutral bleiben, oder darf sie aktiv Stellung beziehen und Veränderungen mit anstoßen? Ich bin gespannt auf Ihre Meinungen und Erfahrungen!
Quellen:
[1] Albert, H. (1972). Ökonomische Ideologie und politische Theorie. Otto Schwarz & Co.
[2] Christian, A., & Schurz, G. (2015). Werte als Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis. Information Philosophie, 3, 20–35.
[3] Baumann, W., Farin, E., Menzel-Begemann, A., & Meyer, T. (2016). Memorandum IV: Theoretische und normative Fundierung der Versorgungsforschung. Das Gesundheitswesen, 78(05), 337–352. https://doi.org/10.1055/s-0042-105511