
Warum Theorie auch für den Rettungsdienst relevant ist
Sascha Bechmann [1] betont im Rahmen der Ringvorlesung Rettungswissenschaften, dass die zunehmende Komplexität rettungsdienstlicher Einsätze und die Professionalisierung des Berufsstands eine eigenständige wissenschaftliche Fundierung erfordern. Die Rettungswissenschaft(en) sollen helfen, evidenzbasierte Handlungsempfehlungen zu entwickeln und die Versorgungsqualität systematisch zu verbessern. Theorie und Forschung gewinnen also an Bedeutung, um die vielfältigen Praxis-Herausforderungen zu bewältigen. Doch was versteht man überhaupt unter „Theorie“, und welche Funktion erfüllt sie im Rettungsdienst?
Was sind eigentlich Theorien?
Wissenschaftlich gesehen ist eine Theorie ein System von Aussagen, das Phänomene beschreibt, erklärt und Vorhersagen ermöglicht [2]. Anders als im Alltag, wo „Theorie“ oft als bloße Vermutung gilt, handelt es sich im wissenschaftlichen Kontext um ein logisches, konsistentes Erklärungsmodell, das durch Beobachtungen gestützt ist. In den Gesundheitsberufen dienen Theorien dazu, komplexes Wissen zu strukturieren und handhabbar zu machen. So sind beispielsweise Pflegetheorien systematisch formulierte Thesen, anhand derer Pflegekräfte ihre praktischen Entscheidungen ausrichten. Sie definieren grundlegende Annahmen professioneller Pflege und fördern ein ganzheitliches Verständnis des Pflegealltags [3].
Oft wird der Begriff „Theorie“ mit abstraktem, praxisfernem Wissen gleichgesetzt – im Sinne von: „etwas, das man in der Schule lernt, aber im Einsatz nicht braucht“. Doch diese Vorstellung greift zu kurz. Theoretisches Wissen meint in der Alltagssprache meist Wissen, das (noch) nicht praktisch angewendet wurde oder scheinbar wenig mit realen Situationen zu tun hat. Eine Theorie im wissenschaftlichen Sinn hingegen ist weit mehr: Sie ist ein systematisches Erklärungsmodell, das dabei hilft, Zusammenhänge zu erkennen, zu strukturieren und Handlungen zu begründen. Theorien abstrahieren nicht von der Praxis – sie verdichten sie. In diesem Sinne sind sie keine Alternative zur Erfahrung, sondern ein Werkzeug, um aus Erfahrung generalisierbares Wissen zu machen.
Ähnlich bieten Theorien im Rettungsdienst ein Gerüst, um spezifische Phänomene – etwa Einsatzmanagement, Teaminteraktion oder Patientenversorgung – erforschen, verstehen und teilweise vorhersagen zu können.
Theorien erfüllen dabei eine doppelte Funktion. In der Forschung bieten sie einen Bezugsrahmen, an dem neue Studien anknüpfen können und in dem sich Wissen kumulativ aufbaut. In der Praxis liefern Theorien Orientierung: Sie verknüpfen empirische Erkenntnisse mit den konkreten Anforderungen des Rettungsdienstes. Theoriegestützte Konzepte können z. B. helfen, Leitlinien zu erarbeiten oder Ausbildungsinhalte zu fundieren. Insgesamt erlauben Theorien, die Komplexität des Rettungsdienst-Alltags zu reduzieren und Handlungswissen zu bündeln – ein Schlüssel zur Professionalisierung des Berufs. Wie Bechmann [1] betont, verstehen sich die Rettungswissenschaft(en) als praxisorientierte Disziplin, die Phänomene rund um Rettung und Notfallversorgung untersucht und durch Integration verschiedener Fachperspektiven praxisnahe Lösungen entwickelt, um die Lücke zwischen Theorie und Praxis zu schließen.
Um den Theoriebegriff weiter einzuordnen, lohnt ein Blick auf die Methoden der Theoriebildung. In der Wissenschaft unterscheidet man traditionell Induktion, Deduktion und Abduktion als Denkansätze:
- Induktion bedeutet, aus mehreren Einzelbeobachtungen allgemeine Schlüsse zu ziehen – etwa, wenn man aus der Beobachtung vieler weißer Schwäne schließt, dass Schwäne in der Regel weiß sind.
- Deduktion bedeutet, aus allgemeinen Gesetzen oder Theorien spezifische Vorhersagen abzuleiten. Beispielsweise folgt aus der allgemeinen Regel „alle Schwäne sind weiß“ deduktiv, dass der nächste beobachtete Schwan weiß sein sollte. In der Forschung werden deduktiv abgeleitete Hypothesen empirisch überprüft, um Theorien zu testen.
- Abduktion schließlich bezeichnet das erschließende Verfahren, bei dem man aus überraschenden Einzelbeobachtungen die plausibelste Erklärung herleitet. Dieser Ansatz, ursprünglich von Charles Peirce eingeführt, spielt eine Rolle, wenn Forscher oder Praktiker aus wenigen Hinweisen auf mögliche Ursachen schließen [4]. Beispielsweise werden in der Diagnostik Symptome zur plausiblen Arbeitshypothese einer bestimmten Erkrankung zusammengeführt).
Beispiele für Theorien finden sich in allen Wissenschaftsbereichen. Die Systemtheorie nach Niklas Luhmann betrachtet beispielsweise die Gesellschaft als komplexe, sich selbst organisierende Systeme und hilft so, z. B. Zusammenhänge im Gesundheitswesen zu verstehen. Die Evolutionstheorie nach Charles Darwin erklärt die Entstehung und Anpassung von Arten durch Variation und Selektion – ein paradigmatisches Beispiel dafür, wie eine Theorie vielfältige Einzelbefunde unter einem Erklärungsschema vereint und sogar Vorhersagen (z. B. zur Antibiotikaresistenz) erlaubt. Beide Beispiele zeigen, dass Theorien abstrahieren von Einzelfällen, um allgemeine Muster zu erkennen. Dadurch machen sie komplexe Realität verständlicher und handhabbarer.
Zusammenfassend sind Theorien im Rettungsdienst keine abstrakten Konstrukte, sondern Werkzeuge, um Erfahrung in reflektiertes Handeln zu überführen. Sie helfen, Wissen zu ordnen, zu kommunizieren und für Ausbildung sowie Praxis nutzbar zu machen.
Popper und der kritische Rationalismus
Eine zentrale Einsicht der Wissenschaftstheorie, geprägt durch Karl Popper, ist: Man kann nie endgültig beweisen, dass eine Theorie wahr ist – man kann sie nur falsifizieren, also widerlegen. Berühmt veranschaulicht wird dieses Falsifikationsprinzip am Schwarzen Schwan: Egal wie viele weiße Schwäne wir beobachten – wir können nie sicher sein, dass nicht doch der nächste Schwan schwarz sein wird. Hingegen reicht ein einziger schwarzer Schwan, um die Aussage „Alle Schwäne sind weiß“ zu falsifizieren. Mit anderen Worten: Wissenschaftliche Hypothesen lassen sich nicht abschließend verifizieren, sondern immer nur vorläufig bestätigen, indem sie bislang allen Widerlegungsversuchen standgehalten haben. Erkenntnisfortschritt entsteht dadurch, dass Theorien rigoros getestet und im Falle einer Falsifikation verworfen oder angepasst werden [5]. Poppers kritischer Rationalismus fordert eine skeptische, selbstkorrigierende Haltung: Jede Aussage muss widerlegbar sein, sonst bewegt sie sich nicht auf wissenschaftlichem Terrain.
In der Medizin traf Poppers Ansatz auf eine traditionell eher positivistische Haltung. Positivismus – vereinfacht gesagt – vertraut stark auf empirische Beobachtung und Verifikation: Eine Behandlung gilt als wirksam, wenn genügend positive Fälle ihren Erfolg „beweisen“. Klassischer medizinischer Wissensgewinn war lange induktiv geprägt: Aus einer Vielzahl erfolgreicher Behandlungen schloss man, dass eine Maßnahme „funktioniert“. Dieses empirisch-pragmatische Vorgehen prägte die Heilkunde, kann aber im Lichte von Poppers Kritik problematisch sein. Schließlich genügt ein kontraindizierender Fall, um zu zeigen, dass eine angenommene Gesetzmäßigkeit nicht allgemein gilt.
Popper vs. Medizinischer Positivismus: Popper würde sagen, kein noch so großer Berg an Fallberichten kann eine Theorie endgültig bestätigen – aber ein Gegenbeispiel zwingt zur Revision. In der medizinischen Praxis jedoch müssen Health Care Professionals (HCP) handeln, auch ohne absolut sicheres Wissen. Hier entsteht eine Spannung: Zwar gesteht man „hohe Unsicherheiten in Diagnose und Therapie“ theoretisch zu, doch in der konkreten Krankenbehandlung spielen sie kaum eine Rolle – „[HCP] orientieren sich nicht an ihrer Unsicherheit, sondern an dem, was sie sehen und wissen“. Anders gesagt: Auch auf epistemisch unsicherer Wissensbasis muss in der konkreten Gesundheitsversorgung entschieden und gehandelt werden. Der praktische Imperativ, im Angesicht von Leiden etwas anzubieten, dominiert über theoretische Zweifel. Das medizinische System ist daher, so Vogd, in seinem Handeln weitgehend immun gegenüber dem ständigen Hinterfragen der eigenen Grundlagen – zu groß ist der Handlungsdruck des „Hier und Jetzt“ eines Notfalls [6].
Dennoch hat Poppers Denken über Umwege Eingang in die moderne Medizin gefunden, vor allem durch die Bewegung der Evidence-Based Health Care (EBHC). EBHC propagiert, klinische Entscheidungen auf die beste verfügbare Evidenz zu stützen [7]. Idealerweise sind dies Ergebnisse randomisierter Studien und Meta-Analysen. Das Kriterium für „Evidenz“ ist dabei streng: Nicht theoretische Plausibilität oder persönliche Erfahrung zählen, sondern der statistisch nachgewiesene Effekt gegenüber einem Vergleich (meist Placebo). Damit wendet EBHC implizit das Poppersche Falsifikationsprinzip an: In der medizinischen Forschung werden Nullhypothesen statistisch geprüft, Hypothesen nicht bewiesen, sondern nur widerlegt(im Sinne des Ablehnens der Nullhypothese). Therapien müssen sich in Studien gegen Scheinbehandlungen behaupten, ansonsten gelten sie als nicht wirksam. Dieses Vorgehen stellt einen kritischen Widerspruch gegen ärztliche Intuition und traditionelle Erfahrungsheilkunde dar – wichtiger ist nicht mehr, warum ein Medikament wirken könnte (biochemische Plausibilität), sondern allein, ob es sich in Ergebnissen zeigt (klinischer Endpunkt wie Lebensqualität oder Überleben). So fordert EBHC eine gesundheitsstatistische Demut: Die Autorität Erfahrungswissens der HCPs wird durch Studienergebnisse relativiert.
Allerdings ist EBHC kein Allheilmittel gegen Unsicherheit. Vogd zeigt, dass EBM zwar nach außen den Popperschen Anspruch erhebt, aber in der Umsetzung neue induktive Schlüsse erforderlich macht [6]. Forschungsergebnisse müssen nämlich in den konkreten Fallkontext übertragen werden – ein Schritt, den kein Statistikprogramm abnimmt. Wenn eine Therapie in einer Studie im Durchschnitt hilft, bedeutet das nur, dass sie wahrscheinlich nützt; ob sie im aktuellen Patientenkontext hilft, bleibt eine induktive Annahme. Dieses Transferproblem führt dazu, dass trotz bester Evidenz im konkreten Einsatz immer eine Restunsicherheit bleibt. Statistische Validität in großen Zahlen garantiert keine Gewissheit im Einzelfall. Zudem beruht EBHC selbst auf zahlreichen Wertungen und Annahmen (z. B. welche Endpunkte relevant sind, wie strikt Studienergebnisse als Handlungsanweisung gelten). Vogd argumentiert, dass EBHC letztlich einen Teil der Unsicherheitsbewältigung von den individuellen HCP auf Organisationen verlagert – etwa in Form von Standards, Leitlinien und Qualitätssicherungsmaßnahmen. Diese schaffen zwar mehr Einheitlichkeit, machen es aber gleichzeitig möglich, dass HCP Entscheidungen treffen „nach Protokoll“ und ihre Unsicherheit gewissermaßen hinter Algorithmen verstecken [6].
Für den Rettungsdienst ergibt sich aus Poppers kritischem Rationalismus und Vogds Analysen eine wichtige Lehre: Wissen bleibt vorläufig. Die Bereitschaft, Eingefahrenes zu hinterfragen, neue Evidenz kritisch zu prüfen und Unsicherheiten offen anzusprechen, ist Kern einer wissenschaftlichen Grundhaltung. Gerade im Notfall, wo schnelle Entscheidungen gefordert sind, sollte man sich bewusst sein, dass Leitlinien und Algorithmen zwar helfen, aber nicht unfehlbar sind. Ein kritisch-rationaler Rettungsdienst verbindet evidenzbasiertes Handeln mit reflektierter Erfahrung und Entscheidung kombinieren – wissend, dass es keine absoluten Wahrheiten gibt. Diese Haltung fördert auch die Patientensicherheit: Wenn z. B. eine Maßnahme beim aktuellen Patienten offensichtlich nicht greift, darf man nicht blind am „Schema F“ festhalten, nur weil der Algorithmus es vorgibt. Popper würde wohl raten, aktiv nach dem ‚schwarzen Schwan‘ zu suchen – also nach Hinweisen auf fehlerhafte Annahmen, um dann im konkreten Fall alternative Vorgehensweisen zu erwägen. So eine selbstkritische Vorgehensweise unterscheidet den reflektierten Professional vom rein regelgläubigen Techniker.
Campeaus Space-Control-Theory
Nach diesen eher abstrakten Überlegungen stellt sich die Frage, wie Theorie in der Rettungspraxis konkret aussehen kann. Ein eindrucksvolles Beispiel liefert der kanadische Rettungswissenschaftler Anthony Campeau mit seiner Space-Control-Theory. Campeau untersuchte, wie Paramedics einen Einsatzort managen, und entwickelte daraus die erste formale Theorie zum Einsatzraummanagement von Paramedics [8]. Die Grundidee: Rettungskräfte müssen einen gewöhnlichen Ort – sei es das Wohnzimmer eines Patienten, die Autobahnabfahrt oder eine belebte Straße – in einen funktionalen Arbeitsraum umwandeln, um effektiv Hilfe leisten zu können. Dies gelingt, indem sie durch bestimmte soziale Prozesse Kontrolle über den Raum herstellen.
In Campeaus qualitativer Studie wurden 24 Rettungsfachkräfte unterschiedlicher Erfahrung interviewt, um herauszufinden, wie sie an Einsatzstellen vorgehen. Das Ergebnis war bemerkenswert: „Space-Control“ beschreibt, dass Notfallteams aktiv ihr Umfeld gestalten, um Sicherheit und Struktur zu schaffen, bevor und während sie medizinische Maßnahmen durchführen. Konkret bedeutet das etwa: eine Sicherheitszone etablieren, Zugangswege freihalten, die Rollen am Einsatzort klären und alle Anwesenden – vom Helfer bis zum Schaulustigen – in ein geordnetes Geschehen integrieren. Paramedics haben keinen vordefinierten „Arbeitsplatz“ wie Personal in der Klinik, sondern akzeptieren den Ort, an dem sie den Patienten vorfinden, als ihren Arbeitsbereich. Dieser Bereich muss oft erst geschaffen und kontrolliert werden, denn Einsätze spielen sich häufig in chaotischen, potentiell gefährlichen Umgebungen ab. Die Theorie betont, dass Szene-Management ein dynamischer sozialer Prozess ist: Das Team interagiert ständig untereinander und mit Dritten (Polizei, Feuerwehr, Angehörige, Passanten), um die Situation unter Kontrolle zu halten. Dazu gehört z. B., klar zu kommunizieren („Wer macht was?“), Autorität auszustrahlen, unnötige Personen zu entfernen, aber auch flexibel mit unvorhergesehenen Störungen umzugehen. Oft muss zwischen der optimalen Patientenversorgung und den Bedingungen am Einsatzort abgewogen werden – Campeau beschreibt ein ständiges “Abwägen zwischen Patientenversorgung und Szenensicherheit“. Beispielsweise könnte es nötig sein, einen Patienten zunächst aus einem Gefahrenbereich zu bringen (Szenenkontrolle), bevor man mit der medizinischen Versorgung beginnt, selbst wenn dies aus rein medizinischer Sicht Zeit kostet.
Warum ist diese Theorie relevant für das Einsatzhandeln? Zum einen macht Campeaus Space-Control-Theory implizites Wissen macht implizites Wissen systematisch zugänglich. Erfahrene Rettungsdienstler wissen aus Routine, wie man „die Lage im Griff behält“. Doch Anfängern muss dieses Können erst vermittelt werden. Indem man systematisch beschreibt, wie Paramedics einen Einsatzort strukturieren (z. B. erst Gefahren beseitigen, dann Patienten priorisieren usw.), kann man gezielter schulen. Campeau schlägt vor, das Bewusstsein für Szene-Management in Aus- und Fortbildung zu stärken, da die Anerkennung dieses Aspekts der Praxis die Ausbildung und Qualitätssicherung verbessert [9]. Tatsächlich fließen solche Erkenntnisse inzwischen in Trainings ein – man übt nicht nur medizinische Skills, sondern auch das Aufstellen eines „inneren Einsatzleiters“, das Delegieren von Aufgaben an Kollegen oder das Beruhigen von Umstehenden. Die Theorie liefert Begriffe und Konzepte (etwa „safety zone einrichten“), die in Leitfäden oder Unterrichte eingebaut werden können. So wird aus zunächst diffusen Erfahrungswerten ein konkret vermittelbares Wissen.
Zum anderen stärkt eine solche Theorie die professionelle Identität des Rettungsdienstes. Sie zeigt nämlich, dass der Beruf über rein medizinisch-technische Fertigkeiten hinausgeht – Rettungsfachpersonal hat eigenes Expertenwissen im Management von Notfallsituationen [10]. Dieses Wissen unterscheidet sie von etwa der Klinikpflege oder den Ärzt:innen im Krankenhaus, die in geschützteren Umgebungen arbeiten.
Ein noch weiter gefasstes Argument für die Notwendigkeit eigener Theorien im Rettungsdienst liefert Campeau in einem späteren Text. Er plädiert dort dafür, dass Paramedics nicht nur technische Handlungen wissenschaftlich fundieren sollten, sondern Theorien über die gesamte rettungsdienstliche Praxis benötigen – sogenannte Theories-of-Practice [11]. Während viele Forschungsarbeiten sich auf medizinische Einzelmaßnahmen konzentrieren, bleibt dabei oft der breitere Kontext rettungsdienstlicher Arbeit unberücksichtigt. Er betont jedoch, dass genau dieser Kontext – die unsichere und soziale Dimension der Einsatzrealität – das Rettungsdiensthandeln wesentlich prägt. Ohne formalisierte Theorien blieben diese Anteile unsichtbar und würden kaum zum Gegenstand von Ausbildung, Forschung oder Qualitätssicherung.
Theorie ermöglicht es, die alltägliche Praxis nicht nur zu beschreiben, sondern systematisch zu verstehen und weiterzuentwickeln. Gerade für einen Beruf wie den des Notfallsanitäters, der weder über die lange Professionstradition der Medizin noch über das theoretische Fundament der Pflege verfügt, ist dies entscheidend. Theorien helfen dabei, das eigene Handeln zu reflektieren, professionelle Identität zu stärken und ein eigenständiges Forschungsprogramm zu etablieren. Campeau argumentiert deshalb, dass Theorieentwicklung für den Rettungsdienst kein akademischer Selbstzweck ist, sondern eine notwendige Grundlage für berufliche Selbstvergewisserung und Weiterentwicklung.
Campeaus Arbeiten unterstreichen, dass Paramedics mehrdimensional handeln: medizinisch, organisatorisch und sozial-kommunikativ. Gerade diese Vielseitigkeit kann in der Forschung aufgegriffen und weiter untersucht werden. Die Space-Control-Theory liefert also einen Ausgangspunkt für weitere rettungswissenschaftliche Studien. Man kann beispielsweise prüfen, ob ihre Befunde in anderen Ländern ebenso gelten, ob man daraus neue Trainingsmodule entwickeln kann, oder wie Raumkontrolle bei unterschiedlichen Einsatzarten (Verkehrsunfall vs. häusliche Notfälle) variiert. Als erste formale Theorie dieser Art hat Campeaus Ansatz geholfen, das Feld „rettungsdienstliches Einsatzmanagement“ zu etablieren. Das unterstützt auch die Verwissenschaftlichung und Professionalisierung des Rettungsdienstes insgesamt. Eigene Theorien und Forschungsbefunde differenzieren das Berufsfeld und erleichtern die Identifikation passender Forschungsthemen, um die Praxis weiter zu verbessern.
Abschließend wird deutlich, dass Theorie und Praxis im Rettungsdienst keine Gegensätze sind, sondern einander bedingen. Theorie ist nicht trocken oder wirklichkeitsfremd – gute Theorien abstrahieren aus der Praxis für die Praxis. Sie helfen, Erfahrungen zu generalisieren, blinde Flecken zu erkennen und begründete Entscheidungen zu treffen. Gerade in einem so komplexen Umfeld wie der Notfallversorgung sind theoretische Modelle als Werkzeuge, die Ordnung ins Chaos bringen. Deshalb sollte der Rettungsdienst Theorie nicht als abgehobenen Ballast sehen, sondern als Chance: Eine reflektierte, theoriegestützte Haltung ermöglicht es, aus Fehlern zu lernen (im Sinne Poppers kritischem Rationalismus), neue Herausforderungen systematisch anzugehen und den Beruf stetig weiterzuentwickeln. Wer die epistemische Unsicherheit anerkennt, aber mit Hilfe von Evidenz und Theorie das Beste daraus macht, handelt letztlich sicherer und professioneller.
Fazit
Theorien wie Campeaus Space-Control-Theory zeigen greifbar, welchen Mehrwert wissenschaftlich-theoretisches Denken für den Rettungsdienst hat – für die Einsatzkräfte selbst und für die Patient:innen. Sie führen zu klareren Handlungsempfehlungen, besseren Trainings und einem geschärften Rollenverständnis. Kurz gesagt, Theorie rettet vielleicht nicht direkt Leben, aber sie rettet die Qualität und Wirksamkeit des rettenden Handelns. In diesem Sinne gilt: Wissen rettet Leben – und Theorie ist ein zentraler Bestandteil dieses Wissens.
Quellen:
[1] Bechmann S. Wissenschaft im Rettungsdienst. Ringvorlesung Rettungswissenschaften, Germany: HSD Hochschule & Fliedner Fachhochschule; 2025. https://youtu.be/ZBhCH2xLiV0?si=CG8PckMI_To-i6Xv
[2] Bacharach SB. Organizational Theories: Some Criteria for Evaluation. The Academy of Management Review 1989;14:496. https://doi.org/10.2307/258555.
[3] Schnell MW, Dunger C. Zur Bedeutung der Pflegetheoriebildung aus phänomenologisch-hermeneutischer Sicht. Pflege & Gesellschaft 2019;24:101–9.
[4] Bellucci F, Pietarinen A-V. Peirce’s Abduction. Handbook of Abductive Cognition, Cham: Springer International Publishing; 2023, p. 7–20. https://doi.org/10.1007/978-3-031-10135-9_7.
[5] Popper K. Logik der Forschung. 5th ed. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck); 1973.
[6] Vogd W. Medizinsystem und Gesundheitswissenschaften – Rekonstruktion einer schwierigen Beziehung. Soziale Systeme 2005;11. https://doi.org/10.1515/sosys-2005-0204.
[7] Sackett DL, Rosenberg WMC, Gray JAM, Haynes RB, Richardson WS. Evidence based medicine: what it is and what it isn’t. BMJ 1996;312:71–2. https://doi.org/10.1136/bmj.312.7023.71.
[8] Campeau A. The Space‐Control Theory of Paramedic Scene‐Management. Symb Interact 2008;31:285–302. https://doi.org/10.1525/si.2008.31.3.285.
[9] Campeau A. Introduction to the “space-control theory of paramedic scene management.” Emergency Medicine Journal 2009;26:213–6. https://doi.org/10.1136/emj.2008.059048.
[10] Corman MK, Phillips P, McCann L. The future of paramedic education: Problematizing the translucentcurriculum in paramedicine. Paramedicine 2025. https://doi.org/10.1177/27536386251338525.
[11] Campeau A. Why Paramedics Require “Theories-of-Practice.” Australasian Journal of Paramedicine 2015;6. https://doi.org/10.33151/ajp.6.2.451.